Erstmals würde er seinen Vater zur Weihnachtszeremonie auf dem Domplatz begleiten. Er hatte sich endlich gegen seine Mutter durchgesetzt, die glaubte er sei noch zu jung dafür. Er hatte geschrien, geweint, gebettelt und geschmollt, bis sie endlich klein beigegeben hatte. Seine Mutter war der Meinung, dass es Traditionen gab, die Kinder nicht verstehen würden. Das hatte Simon richtig wütend gemacht. Immerhin war sein Freund Peter bereits im Vorjahr mit seinen Eltern zum Domplatz gegangen und hatte dann in der Schule wochenlang damit geprahlt. Simon hatte ihn daran erinnert, dass Hochmut eine Sünde war. Aber dasselbe galt auch für Neid und bei Gott, Simon hatte seinen Freund beneidet, wie noch nie jemanden zuvor in seinem Leben.
Zum Glück hatte sich irgendwann Simons Vater in die Diskussion eingebracht und beschlossen, dass Simon alt genug war, ihn zu begleiten. So eine Tradition war schließlich dazu da, den Charakter zu stärken und damit konnte man nicht früh genug anfangen. Damit war das Thema erledigt und Simon hatte die Erlaubnis mitzukommen. Während Simon vor dem Fernseher saß und sich eine Zeichentrickversion der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens ansah, kam es ihm so vor als würde die Zeit stillstehen. Normalerweise schienen Weihnachtstage wie im Flug zu vergehen, doch nicht diesmal. Als sein Vater endlich ins Wohnzimmer kam um ihn zu holen, stürmte er in Rekordzeit die Treppe hinunter und zur Vordertür raus. Er vergaß sogar sich seine Jacke anzuziehen. Sein Vater warf sie ihm lachend über den Kopf als er ihn in der Einfahrt einholte. Als sie die Erlöserbrücke in Richtung Stadtzentrum überquerten, waren so viele Menschen auf der Straße, dass Simon aufpassen musste niemandem auf die Füße zu treten. In den Gassen der Altstadt hinauf zum Domplatz war das Gedränge sogar noch größer. Langsam schoben sich Simon und sein Vater gemeinsam mit tausenden Anderen auf den Platz. Dort bahnten sich die beiden einen Weg zu einem der Verkaufsstände. Monatelang hatte Simon sein Taschengeld gespart um einen der Glückssteine, die hier verkauft wurden, zu bekommen. Als er den schweren Stein, bemalt in den Nationalfarben – schwarz, rot und weiß – in Händen hielt, war er glücklich und stolz. Mit einem breiten Grinsen betrachtete er den Stein, während ihn sein Vater in Richtung Bühne zog, die vor dem Dom aufgebaut war. Mittlerweile hatte es zu schneien begonnen und die Dämmerung brach langsam über die Stadt herein. Scheinwerfer wurden auf die Bühne gerichtet. Alle warteten auf den Himog, der mit seiner Ansprache die Zeremonie eröffnen würde. Endlich hörte Simon das Läuten der Domglocke. Insgesamt schlug sie zwölfmal, dann betrat der Himog die Bühne. Um seinen Hals trug er ein großes goldenes Kreuz und eine Kornblume an seinem Revers. Er ließ seine stahlblauen Augen über die Menge wandern. Auf dem Platz war es mucksmäuschenstill. Schließlich erhob der Himog seine Stimme und die Lautsprecher trugen seine Worte bis in die hinterste Reihe des Publikums: Liebe Brüder und Schwestern! Es erfüllt mich mit Freude, heute, an diesem heiligen Tag, so viele von euch hier zu sehen. Gerade in Zeiten wie diesen ist es besonders wichtig ein sichtbares Bekenntnis zu unseren Traditionen und unserer Kultur abzulegen um unsere Gesellschaft und unsere großartigen Nation gegen diejenigen zu verteidigen, die in unser Land kommen ohne unserer Werte zu teilen und ohne unsere Lebensweise annehmen zu wollen. Für solche Eindringlinge, deren einziges Ziel die Zersetzung unseres Volkskörpers ist, gibt es keinen Platz in unserer Mitte, nicht heute und auch nicht in Zukunft! Ohrenbetäubender Applaus brandete auf. Bei Johannes steht geschrieben: Wenn jemand zu euch kommt und bringt diese Lehre nicht, so nehmt ihn nicht ins Haus und grüßt ihn nicht. Denn wer ihn grüßt, hat teil an seinem bösen Werk! Wieder jubelte die Menge. Simon hörte nicht mehr hin. Nicht mehr wirklich. Er blickte in die fröhlichen Gesichter der Menschen und hoffte, dass das Ritual nun endlich beginnen würde. Lukas 19:27 – Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dann sich selbst, der kann nicht mein Jünger werden! Frenetischer Jubel. Matthäus 10:34 – Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert! Noch größerer Jubel. Polizisten in voller Schutzausrüstung und mit Schlagstöcken bewaffnet, teilten das Menschenmeer, so dass sich ein etwa dreihundert Meter langer Korridor vom Dom bis hinunter zum Marientor bildete. Dann wurde ein großer Käfig auf den Platz gebracht. Darin befanden sich zwölf dunkelhäutige Männer. Flüchtlinge, illegale Immigranten, die meisten aus dem Nahen Osten. Sie waren ohne Einladung in dieses Land gekommen und nun war es an ihnen sich den Aufenthalt in diesem Land durch die Teilnahme am Weihnachtsritual zu verdienen. Das Ritual war im Grunde denkbar einfach. Wer von den Zwölf den Weg bis zum Marientor zurücklegen konnte, durfte bleiben. Der Himog erhob erneut seine Stimme: Gott frisst die Völker, die ihm Feind sind, er zermalmt ihre Knochen! Mit einem Ruck wurde die Käfigtüre aufgerissen und der erste Läufer stürmte hinaus auf den Platz. Er kam nur ein paar Schritte weit, ehe ihn dutzende bunte Steine am Kopf trafen und er bewusstlos zu Boden sank. Eine Unmenge faustgroßer Steine hagelten auf seinen regungslosen Körper nieder, bis sich jeder Zuseher sicher war, dass er nie mehr aufstehen würde. Dasselbe Schicksal ereilte die folgenden drei Läufer. Auch sie kamen nur wenige Meter weit. Das führte dazu, dass die Nachfolgenden erst über einige leblose Körper springen mussten, ehe sie ihr Glück versuchen konnten. Die meisten kamen nicht einmal bis zur Hundertmetermarke. Niemand schien an diesem Tag eine Chance zu haben das Tor zu erreichen. Niemand bis auf einen. Dieser Läufer war schneller und geschickter als die anderen. Er lief zickzack, weit nach vorne gebeugt und den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen um keine Angriffsfläche zu bieten. Er lief hundertfünfzig Meter ehe er überhaupt von einem Stein getroffen wurde. Der jedoch prallte an seiner Schulter ab, ohne wirklich Schaden anzurichten. Simon streckte seinen Kopf um den Läufer dabei zu beobachten wie er mit langen Schritten über den Platz flitzte, ganz so wie die Leichtathleten, die er ihm Fernsehen gesehen hatte. Jetzt war er schon an der Zweihundertmetermarke. Das Publikum grölte. Immer mehr Steine wurden geworfen. Keiner traf ihn. Er war nur noch fünfzig Meter vom Tor entfernt. Simon hob seinen Stein um ihn zu werfen. Er blickte in das Gesicht des Mannes - die zusammengekniffenen Augen, der Schweiß, der ihm trotz der Minusgrade auf der Stirn stand. Simon konnte es nicht. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hoffte er, dass der Läufer es schaffen würde. Noch vierzig Meter, noch dreißig. Das Publikum flippte aus. Nur noch zwanzig Meter. Simon war sich sicher, dass er es schaffen würde. Selbst wenn ihn jetzt noch ein Stein traf, er würde es schaffen. Simons Hände wurden feucht, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Blick wurde glasig. So etwas Aufregendes hatte er in seinem Leben nicht gesehen. Um ein Haar hätte er den Läufer angefeuert. Dann geschah es. Simon sah es ganz genau. Eine junge Frau, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, ihr kleines Baby in ein Tuch vor ihre Brust gebunden trat einen Schritt nach vorne. Und als der Mann an ihr vorbeilief, stellte sie ihm ein Bein. Das Publikum brach in Gelächter und Freudenschreie aus. Eine wahre Lawine bunter Steine brach über den Läufer herein. Simon sah wie sich der Schnee um den Mann dunkelrot färbte. Zuerst zuckten seine Beine noch, so als wollten sie immer noch weiter laufen. Dann war es vorbei. Der Himog wünschte allen Anwesenden ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr und die Menge begann sich aufzulösen. Auf dem Weg nach Hause sagte Simon kein Wort. Er starrte nur auf den bunten Stein in seiner Hand, auf den Stein, für den er fast ein halbes Jahr gespart hatte. Schließlich fragte ihn sein Vater, was denn los sei. „Diese Frau“, antwortete Simon. „Was ist mir ihr?“ „Sie hat geschummelt.“ Sein Vater sah Simon einen Augenblick lang verdutzt an, dann brach er in schallendes Gelächter aus, tätschelte ihm den Kopf und ging mit ihm weiter in Richtung Erlöserbrücke. „Aber, sie hat doch geschummelt“, murmelte Simon und ließ seinen Stein in den Neuschnee fallen.
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